Deutsche
Die Deutschen sind eine Ethnie, die die Titularnation Deutschlands bildet. Das Ethnonym „Deutsche“ wird in vielfältiger Weise verwendet. Für die Definition der Deutschen als Ethnie werden verschiedene subjektive und objektive Kriterien genannt, unter anderem deutsche Abstammung, deutsche Muttersprache, Pflege deutscher Kultur, das Bekenntnis zum deutschen Volkstum und zur deutschen Geschichte und der Glaube an diese Gemeinsamkeiten. Eine „völkische“ Konzeption der Deutschen sieht dabei in der gemeinsamen Abstammung das primäre Unterscheidungsmerkmal zwischen Deutschen und Nichtdeutschen. Es gibt enge Wechselbeziehungen, aber auch Konfliktpotential zwischen den verschiedenen Konzeptionen, insbesondere einerseits zwischen dem Ethnienkonzept, das die Deutschen als Nachfahren des die deutsche Sprache sprechenden Bevölkerungsteils des Ostfrankenreiches betrachtet, aber später nationalistisch umgedeutet wurde, sowie andererseits den Bestimmungen über die rechtliche Zugehörigkeit zu Deutschland.
Im juristischen Sinne bilden alle deutschen Staatsbürger, ungeachtet ihrer deutschen oder anderen Ethnie, das deutsche Staatsvolk; ihnen gleichgestellte Personen mit „Zugehörigkeit zu der deutschen Nation im ethnisch-kulturellen Sinne“ sind Deutsche im Sinne des Grundgesetzes.
Die Deutschen als Ethnie
Definitionen
Die Frage, wie die Deutschen ethnisch und als Nation zu definieren wären, hat im Laufe der Geschichte eine Fülle verschiedener, teils widersprüchlicher Antworten gefunden.[9] Die Vorstellung einer ethnisch-kulturellen Einheit der Deutschen ist ab etwa Beginn des 19. Jahrhunderts, seit den Freiheitskriegen gegen die napoleonische Herrschaft, die wichtigste Grundlage deutscher Nationskonzepte. Da kein deutscher Nationalstaat existierte, konstituierte sich das Konzept der Volksgemeinschaft nicht über einen Staat, sondern über Vorstellungen kultureller (insbesondere auch sprachlicher) Identität und gemeinsamer Abstammung.[10] Dies prägt das deutsche Nationalverständnis bis in die Gegenwart und äußert sich etwa in den Bestimmungen über die deutsche Staatsangehörigkeit.[11] Nach dem Historiker Friedrich Meinecke (1922) wird eine solche Nation als Kulturnation von Staatsnationen auf der anderen Seite abgegrenzt,[12] wonach die deutsche Nation neben der italienischen eine der ersten primär kulturell und ethnisch konzipierten Nationen sei.
Der österreichisch-deutsche Völkerrechtler Rudolf Laun definierte 1930 „Volk im natürlichen Sinne“ als die aus „Abstammungsgemeinschaft und Geschlechtsverbindung entstandene und durch Gleichheit der Sprache zu geistiger Einheit verschmolzene sittliche Gemeinschaft des freien persönlichen Bekenntnisses“.[13] Der Rechtswissenschaftler Karsten Mertens definiert 2004 deutsche Volkszugehörige unter Heranziehung des Bundesvertriebenengesetzes sowohl durch subjektive als auch durch objektive Merkmale: einerseits durch ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum, das andererseits durch Abstammung, Sprache, Erziehung oder Kultur bestätigt wird.[14]
Der Kulturwissenschaftler Harald Haarmann führt 2004 als Kriterien für die Zugehörigkeit die Muttersprache Deutsch und eine deutsche Abstammung an, wobei die Zahl derer, die das letztgenannte Kriterium erfüllen, größer sei als die Zahl der Muttersprachler. Deutschsein werde heute aber zunehmend im Sinne der Staatsangehörigkeit verstanden: Wer heute Deutsch spreche, könne ebenso gut aus Europa wie aus Asien oder Afrika stammen. Deutschsein sei zu einem „multiethnischen Begriff“ geworden und nähere sich somit strukturell Begriffen wie Englischsein, Französischsein oder Spanischsein an, die gleichfalls multiethnische Situationen beschrieben.[15]
Der Soziolinguist Ulrich Ammon definiert 2015 den „schwierigen Begriff ‚deutsche Ethnie‘“ unabhängig von staatlichen Definitionen als Menschen, die glaubten, Gemeinsamkeiten in ihrer jeweiligen Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur oder Religion zu haben. „Der Glaube ist dabei letztlich ausschlaggebend“. Die Selbstzuordnung, das ethnische Bekenntnis, könne sich dabei auch überlappen oder schwanken. Dies sei vor allem bei Migranten in Deutschland sowie bei deutschsprachigen Minderheiten, etwa in Rumänien oder Russland, der Fall.[16]
Geschichte
Ethnogenese
Die Frage, ab wann von einem deutschen Volk gesprochen werden kann, fand seit dem Mittelalter unterschiedliche Antworten. Das Annolied des späten 11. Jahrhunderts und die um Mitte des 12. Jahrhunderts entstandene Kaiserchronik warten mit dem Geschichtsmythos auf, Gaius Iulius Caesar hätte Schwaben, Bayern, Sachsen und Franken unterworfen und anschließend mit ihrer, also deutscher Hilfe, das römische Kaisertum errichtet, das also in Wahrheit ein deutsches wäre.[17] Etwas später führte Norbert von Iburg in seiner Vita Bennonis die Entstehung der Deutschen auf den Sieg Karls des Großen über die Sachsen zurück.[18] Im 19. Jahrhundert setzte man, ausgehend von Friedrich Ludwig Jahns Deutsches Volksthum (1810) Deutsche und Germanen gleich und sah die Anfänge der Deutschen in Arminius und der Varusschlacht 9 n. Chr.[19] Noch 1990 ließ der Siedler Verlag seine Buchreihe über deutsche Geschichte mit einem Band über die Germanen in Antike und Frühmittelalter beginnen.[20]
In der historischen Forschung ist bis heute umstritten, ab wann von Deutschland und ab wann vom deutschen Volk gesprochen werden kann. In der älteren, stark national geprägten Forschung wurde die Gleichsetzung von Germanen mit den Deutschen im mittelalterlichen Reich postuliert. Dieser Ansatz ist sehr problematisch und wird in der neueren Forschung abgelehnt,[21] denn es wird dabei auch eine bewusste Eigenidentität vorausgesetzt. In der modernen Forschung wird Ethnogenese hingegen als sozialer Prozess verstanden, in dessen Verlauf sich eine Identität im Rahmen eines komplexen Entwicklungsprozesses erst langsam herausbildet.[22] Hinzu kommt, dass eine Sprachgemeinschaft nicht einfach mit einer ethnischen Gemeinschaft gleichgesetzt werden kann.[23] Die Auswertung der zeitgenössischen Quellen ergibt denn auch nicht das Bild von „deutschen Stämmen“, die sich im 9. Jahrhundert bewusst in einem eigenen Reich (dem Ostfrankenreich) zusammengeschlossen haben. Als Orientierungspunkt diente vielmehr bis weit ins 11. Jahrhundert hinein das Frankenreich.[24]
Erst im 11. Jahrhundert taucht der Begriff rex Teutonicorum („König der Deutschen“) für den ostfränkischen/römisch-deutschen Herrscher auf, allerdings als Fremdbezeichnung durch anti-kaiserliche Kreise, denn die römisch-deutschen Herrscher haben sich selbst nie so bezeichnet.[25] Für die mittelalterlichen römisch-deutschen Herrscher waren die deutschsprachigen Gebiete ein wichtiger Teil des Reiches, das aber daneben auch Reichsitalien und das Königreich Burgund umfasste. Aufgrund der Reichsidee, die die Anknüpfung an das antike Römerreich und eine heilsgeschichtliche Komponente beinhaltete, war der damit einhergehende Herrschaftsanspruch nicht national, sondern (zumindest theoretisch) universal ausgerichtet.[26]
In der folgenden Zeit diente als loser politischer Rahmen das Reich, als verbindende kulturelle Komponente die deutsche Sprache. Eine „deutsche Identität“ – die Idee, zu einer spezifischen, abgegrenzten Gemeinschaft zu gehören – entwickelte sich im allgemeinen Bewusstsein erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Während in England und Frankreich mit ihren zentral organisierten Königsherrschaften die Tendenz zu „nationalen Königreichen“ neigte (wobei Benedict Anderson den Begriff Nation als „vorgestellte, begrenzte und souveräne Gemeinschaft“ erläutert), dominierte im von partikularen Grundstrukturen geprägten römisch-deutschen Reich die universale Reichsidee, wenngleich Begriffe wie deutsche Lande in späteren Quellen durchaus belegt sind. Erst im Spätmittelalter begannen deutsche Gelehrte wie z. B. Alexander von Roes und Lupold von Bebenburg sich Gedanken über die Rolle „der Deutschen“ im Gefüge Europas und einer politischen Identität (biologische Kategorien spielten hier keine Rolle) zu machen, was aus einer Position politischer Schwäche des Reiches geschah, wobei die Überlegungen weiterhin stark mit der Reichsidee verknüpft blieben. Nun erst setzte der Prozess einer langsamen politischen Identitätsbildung im eigentlichen Sinne ein.[27]
Aus diesen Gründen wird die Frage, seit wann es ein deutsches Volk gibt, von der mediävistischen Forschung vor allem aufgrund der Prozesshaftigkeit der Ethnogenese nicht mehr eindeutig beantwortet. Laut Carlrichard Brühl hat nicht ein ewiges oder präexistentes deutsches Volk den deutschen Staat geschaffen, wie die völkische Geschichtsschreibung es lange annahm. In Wirklichkeit stehe umgekehrt „außer Frage, daß […] der Staat das deutsche Volk geschaffen hat“.[28]Bernd Schneidmüller sieht in den oben erwähnten Ursprungsgeschichten ein Indiz für ein sich ab dem 11. Jahrhundert ausbildendes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit.[29] Nach dem Anglisten Manfred Görlach gab es im europäischen Mittelalter noch kein sprachlich begründetes Nationalgefühl. Der Historiker Heinz Thomas dagegen bewertet die integrierende Kraft der deutschen Sprache höher und nimmt an, dass seit den 1080er Jahren Alemannen, Bayern, Franken und Sachsen zusammenfassend als deutsch bezeichnet worden seien. Der Historiker Knut Schulz sieht dagegen Belege für ein Zusammengehörigkeitsgefühl von Deutschen im Ausland erst für das 15. Jahrhundert als gegeben an.[30] Das Syntagma deutsche Nation ist erstmals für das 15. Jahrhundert belegt, deutsches Volk erst für das 19. Jahrhundert.[31]